WOHER kommen die IDEEN?
Es ist wohl eine der häufigsten Fragen, die ein Autor bei Lesungen und ähnlichen Anlässen zu hören bekommt: »Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Ideen?« Manche Leute scheinen so etwas wie eine geheime Quelle zu vermuten, die ein Autor anzapfen kann, vielleicht mit einer Art zusätzlichem Sinn. Oder sie erhoffen sich Aufschluss über ein magisches Ritual zur Beschwörung von Kreativität. Terry Pratchett sprach in diesem Zusammenhang von »Ideenquanten«, die durch den »kreativen Äther« fliegen und irgendwann irgendwo auf ein empfangsbereites Gehirn treffen, um sich dort zu einer Geschichte zu entfalten. Die Wahrheit ist gar nicht so weit davon entfernt. Wir sind von endlos vielen guten Ideen umgeben, doch ihr Erkennen erfordert eine besondere Denkweise: Man muss in Geschichten denken und sich immer wieder die Frage stellen: »Was wäre, wenn …?«
Bei meiner Arbeitsweise unterscheide ich zwischen zwei grundsätzlichen Arten von Ideen. Sie beziehen sich auf »Personen« und »Dinge und Situationen«. Ich stelle mir Personen vor, die sich mit Problemen konfrontiert sehen (Konflikt!), und frage mich: Wie kam es dazu, und wie geht es weiter? Daraus entwickelt sich eine Geschichte mit immer mehr Details. Oder ich stelle ein »Ding« in den Mittelpunkt, ein Objekt oder eine besondere Situation, und überlege mir, wie Personen darauf reagieren könnten und wie sich die Situation aufgrund der Wechselwirkungen mit den Personen verändert.
Das ist oft der Anfang für mich: eine einzelne Szene, die nicht unbedingt am Anfang des Romans steht, sondern auch in der Mitte oder am Ende platziert sein kann. Sie bildet die Grundlage für wochen- oder monatelange Entwicklungsarbeit, bis schließlich das Konzept fertig ist und die wichtigsten Fragen beantwortet sind, nämlich »Was geschieht wann und wo?« und »Wie sind die Personen an dem Geschehen beteiligt?«
Nicht die Idee ist der schwierige Teil eines Romans, sondern ihre Ausarbeitung zu einer vollständigen, plausiblen Geschichte. Diese harte kreative Arbeit kann viel, viel Zeit in Anspruch nehmen. Obwohl … es gibt Ausnahmen. Ein einziges Mal in gut vier Jahrzehnten als Autor bin ich morgens (zu der Zeit wohnte ich noch in Italien) mit einem kompletten Roman im Kopf aufgewacht, nicht nur mit dem Saatkorn einer Idee – da muss mein empfangsbereites Gehirn gleich mehrere Ideenquanten eingefangen haben. Das Ergebnis dieses einmaligen Zwischenfalls war »Die Stadt«, erschienen 2011 bei Heyne.