Wie man schreibt … (6)

Ein kleiner Ratgeber für das Schreiben, 6. Teil

Über »flaches« und »tiefes« Schreiben

Sie haben alles im Kopf, und nicht nur dort. Sie haben auch alles gut vorbereitet, mit reichlich Notizen für Handlung und Figuren, es kann also losgehen. Jetzt stehen Sie vor dem Problem, wie die ersten Sätze beschaffen sein sollen. Die Frage lautet: Wie machen Sie den Leser mit der Welt vertraut, die Sie sich ausgedacht haben, und mit den Figuren?

Ein guter Lektor gab mir vor vielen Jahren den Tipp, die Romanfiguren sofort agieren zu lassen, und diesem klugen Rat folge ich noch heute. Er sprach auch von »flachem« und »tiefem« Schreiben, von »Handlungs-« und »Figurenbezogenheit«, von »Tell the truth«, »Show, don’t tell« und, wichtiger als man glaubt, »Kill your darlings«. Aber der Reihe nach.

Sie könnten den Roman so beginnen: »Er hing über dem Abgrund und suchte mit den Fingern auf regennassem Fels nach Halt – wenn er jetzt stürzte, bedeutete es den sicheren Tod.« Oder so: »Das Haus war grau, ragte drei Stockwerke auf und hatte vier Eingänge, der größte von ihnen rechts, etwa zehn Meter entfernt.«

Zugegeben, es sind zwei extreme Beispiele, aber ich denke, sie verdeutlichen worum es geht. Beginnen Sie den Roman nicht mit einer ellenlangen Beschreibung ihrer Welt oder des Schauplatzes, weil Sie meinen, der Leser müsse erst die Bühne kennenlernen, auf der sich alles abspielt, bevor die Darsteller auftreten. Denken Sie daran, dass der Leser vor allem an Personen interessiert ist, an Schicksalen, an Ereignissen, die Ihre Figuren betreffen. Im ersten Beispiel fragt er sich: Was wohl mit dem Mann passieren wird? Im zweiten fragt er sich gar nichts, weil er keine Beziehung zu dem Haus hat, auch wenn das Gebäude später noch so wichtig sein sollte. Die ersten Sätze und Seiten des Romans sind sehr, sehr wichtig, denn sie entscheiden darüber, ob der Leser weiterlesen möchte. Bringen Sie ihm die Personen nahe, um die es geht, oder wenigstens eine von Ihnen – eine leere Bühne ist langweilig, selbst mit prächtigen Kulissen. Lassen Sie den Leser Anteil nehmen. Und nein, Sie müssen den Roman nicht mit jemandem beginnen, der über einem Abgrund baumelt – ich habe dieses Beispiel nur gewählt, um eine Person in den Mittelpunkt zu rücken. Es gibt auch andere, sanftere (und viel bessere) Einstiege, die sich eignen, eine Beziehung zwischen Leser und mindestens einer Romanfigur zu vermitteln.

Der große Unterschied zwischen »flachem« und »tiefem« Schreiben liegt hier, wie mir damals der Lektor erklärte. Flaches Schreiben bedeutet, dass die Figuren kaum mehr sind als Namen, die vor allem dazu dienen, die Handlung voranzutreiben. Sie tun, was sie tun, weil es Plot und Autor so von ihnen wollen. Dadurch bleiben sie oft blass. Beim tiefen Schreiben werden die Figuren lebendig, sie interagieren mit dem Geschehen. Die Handlung ergibt sich aus ihren Besonderheiten, aus den Wechselwirkungen zwischen ihnen. Tiefes Schreiben ist meistens figurenorientiert, d.h. die Personen stehen im Mittelpunkt. Flaches Schreiben hingegen ist häufig handlungsorientiert. Es geht vor allem darum, was passiert: Die Ereignisse stehen im Vordergrund, nicht die Personen.

Mit dem »flachen« und »tiefen« Schreiben in Verbindung stehen auch die beiden Prinzipien »Tell the truth« und »Show, don’t tell«. Das »Sagen Sie die Wahrheit« bedeutet: Seien Sie plausibel, seien Sie glaubhaft. Die Probleme, mit denen Sie Ihre Romanfiguren konfrontieren, müssen auf eine nachvollziehbare Art und Weise gelöst werden, nicht durch ein »Wunder«. Wenn das, was Sie schreiben, für den Leser nicht glaubhaft ist, wenn er den Eindruck gewinnen, dass Sie »lügen« … Dann legt er das Buch beiseite. Der zweite Grundsatz – »Zeigen, nicht erzählen« – ist ebenso wichtig: Verwenden Sie Handlung und Dialog, um Dinge zu erklären und zu beschreiben. Rücken Sie den Standpunkt des Erzählers in den Hintergrund und überlassen Sie es den Ereignissen, dem Leser alles zu verdeutlichen. Das gibt den einzelnen Szenen und dem ganzen Roman eine viel größere Wirkung.

Und zum Schluss noch »Kill your darlings«, töte deine Lieblinge. Vielleicht der schwierigste Punkt, steht er doch mit dem Ego des Autors in Zusammenhang. Jeder von uns hat so seine Lieblinge, bestimmte Formulierungen, an denen man hängt. Der Rat eines guten Lektors lautet: Seien Sie bereit, sich davon zu trennen. Es geht nicht darum, sich jedes Mal komplett neu zu erfinden, aber man sollte beim Schreiben und vor allem später beim Überarbeiten mit kritischem Blick gerade an die Stellen herangehen, die man für besonders gut hält – es könnte nämlich sein, dass man sich irrt. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn es irgendwo in einem Text knirscht, ohne dass sich die Stelle genau lokalisieren lässt, so kann es durchaus an den Passagen liegen, die mir viel bedeuten – Testleser bestätigen so etwas manchmal.

Apropos Ego … Es steht so manchem Autor im Weg. Mein Rat: Schreiben Sie nicht, um berühmt zu werden, um ein tolles, geniales Werk zu schaffen. Schreiben Sie, um eine interessante Geschichte zu erzählen. Der Ruhm kommt später, vielleicht. 🙂

Fortsetzung folgt

 

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