DER RISS

Am 16.10.2024 ist es so weit, dann erscheint »Der Riss« im Heyne Verlag. Es wird eine große Premierenlesung geben, und zwar am Samstag, 21.9., im Rahmen des Lesefestivals in Rosenheim, bei dem zahlreiche namhafte Autoren zugegen sein werden: (https://www.lokschuppen.de/heldinnen-helden/heros2024/lesefestival) Aus diesem Anlass hat der Heyne Verlag den Druck des Buches um eine Woche vorgezogen – bei meiner Lesung in Rosenheim aus »Der Riss« wird es also bereits Print-Exemplare geben.

Wachen auch Sie manchmal nachts um 3:07 Uhr auf? Wer weiß, es könnte Anzeichen für einen »Riss« sein …

Hier ist eine kleine Leseprobe, der Anfang des Romans, der Prolog:

Prolog
Alma Salome
Madrid, Spanien
Mittwoch, 3. August

Die Nacht starrte sie an.

Nicht mit den Tausenden Lichtern der Stadt, die unter ihr ausgebreitet lag, sondern mit Augen in den dichtesten und dunkelsten Schatten.

Alma Salome stand auf der Dachterrasse ihres Penthouses im fünfzehnten Stock des neuen Apartmentgebäudes und suchte den Blick der Nacht erst im Osten, beim nicht weit entfernten Palacio Real, dem Königspalast. Doch dort leuchten Madrids Lichter besonders hell, und die Schatten blieben grau, schmal und klein. Im Südosten, beim monumentalen Friedhof Saint Isidore, wurden sie breiter und größer, doch jene Finsternis blieb den Toten vorbehalten und den Menschen, die des Nachts ihre Nähe suchten. Im Westen und Norden schien die Stadt Löcher zu bekommen. In dem mehr als tausendfünfhundert Hektar großen Park Casa de Campo wirkten die wenigen Lichter wie Eindringlinge, wie Sterne, die vom Himmel gefallen waren, ohne ganz zu erlöschen.

Alma beobachtete den Park und fröstelte plötzlich trotz der schwülen Hitze, die die Stadt seit Tagen gefangen hielt. Sie hatte den Blick gefunden und glaubte, auch die Stimme zu hören, an die sie sich erinnerte, leiser als der nächtliche Pulsschlag von Madrid.

»Was willst du mir sagen?«, flüsterte sie und versuchte, die Erinnerung festzuhalten.

Du kannst es herausfinden, antwortete die Dunkelheit.

»Wie?«

Oh, das weißt du.

Alma kletterte auf die Brüstung und stand mit dem fünfzehn Stockwerke tiefen Abgrund direkt vor ihr. Unten rollten Fahrzeuge mit leisen Elektromotoren über die breite Straße. Ihr Scheinwerferlicht verschmolz mit dem Schein der Straßenlampen.

Sie sah noch einmal zurück, zu den Fenstern ihres Penthouses. Nur eine Lampe brannte dort, die Stehlampe in der Ecke des Wohnzimmers, deren mattes Licht bis zur offenen Terrassentür reichte.
Jemand stand dort, ein Mann, mittelgroß und schlank, sein Gesicht verborgen in den Schatten. Sie sah den Unbekannten nicht zum ersten Mal. Bisher war er immer stumm geblieben, er hatte nie auch nur ein Wort gesprochen, und wie sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, sein Gesicht zu erkennen.
Sie blinzelte, und die Gestalt verschwand. Es zeigte sich keine Silhouette mehr in der offenen Tür.
Alma blickte wieder in die Tiefe.

Vielleicht lande ich auf einem der Autos, dachte sie, von einer seltsamen Ruhe erfasst. Ich könnte jemanden verletzen.

Demokrit, raunte die Nacht.

»Was?« Das war neu. Daran erinnerte sich Alma nicht.

Ein griechischer Philosoph, teilte ihr die Dunkelheit mit. Die Wahrheit liegt in der Tiefe, hat er gesagt.

»Was?«

Spring!, befahl die Nacht. Finde die Wahrheit in der Tiefe.

Plötzlich waren Almas Gedanken klar wie Glas. Sie kannte die Fragen und ihre Antworten. Sie wusste, was geschah und geschehen würde. Sie wusste auch, dass es zu spät war, etwas dagegen zu tun. An dieser Stelle war es immer zu spät.

Sie sprang.


Nichts hielt sie fest. Sie schwebte nicht, sie fiel und begriff, dass ihr nur einige wenige Sekunden blieben, gerade noch Zeit genug für zwei schnelle Atemzüge.

Alma stürzte nicht auf ein Auto, sondern auf die Straße, direkt vor einem Kleintransporter, der nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte – das Fahrzeug überrollte sie.

Aber Alma starb nicht. Sie …

… erwachte, schweißgebadet trotz der Klimaanlage in ihrem Schlafzimmer. Die Uhr auf dem Nachtschränkchen zeigte 3:07.

Es geschah immer um diese Zeit, gegen drei Uhr nachts. Ein Albtraum, der sie im tiefen Schlaf heimsuchte, seit ein paar Wochen fast in jeder Nacht: von ihrer Dachterrasse ein Sprung in die Tiefe, in den sicheren Tod. Und immer fühlte sie sich dabei beobachtet, etwas starrte sie an.

Die Anzeige der Uhr wechselte auf 3:10.

Alma Salome blinzelte. Drei Minuten in wenigen Sekunden. Auch das geschah manchmal: Die Zeit verging zu schnell.

Sie stand auf, von plötzlichem Durst geplagt, wankte zur Tür, in den Flur und ins Bad. Dunkelheit empfing sie, aber hier gab es keine verborgenen Augen, die sie beobachteten.

Ihre linke Hand fand das Glas, die rechte den Wasserhahn. Sie trank gierig, wie halb verdurstet, stellte das Glas ab und merkte, dass sich die Hand, die es gehalten hatte, anders anfühlte.

Für einen Moment stand sie still. Dann tastete sie mit der anderen Hand nach dem Lichtschalter.
Jähe Helligkeit blendete Alma. Für einige Sekunden kniff sie geblendet die Augen zu.

Mit dem Gesicht im Spiegel stimmte etwas nicht. Sie sah genauer hin und bemerkte Schmutz auf den Wangen und am Kinn.

Langsam hob sie die ebenfalls schmutzigen Hände und drehte sie. Hautabschürfungen zeigten sich an den Handflächen und auch an den Unterarmen.

Der Albtraum, begriff sie, war mehr gewesen als nur ein Traum.
(Ende des Prologs)

ET 16.10.2024, ISBN 978-3-453-27482-2, Hardcover mit Schutzumschlag, ca. 600 Seiten, Verlag: Heyne

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